„Ich vermisse gar nichts!“

Ein Gespräch mit DDR-Zeitzeuge Rainer Schneider

Am Dienstag, den 19.01.2021, erfuhren wir Schülerinnen und Schüler der 10. Jahrgangsstufe, dass es auch beim Online-Unterricht Abwechslung geben kann. Zwar begann gegen 8 Uhr eine Videokonferenz, doch erwartete uns alles andere als eine „normale“ Unterrichtsstunde.

Im Rahmen des Geschichtsunterrichts hatten Frau Söllner und Herr Rößler Herrn Rainer Schneider, einen DDR-Zeitzeugen eingeladen, um uns von seinem Leben und seinen Erfahrungen in der Deutschen Demokratischen Republik zu erzählen. Dieses Gespräch barg außerdem die Möglichkeit, Fragen über diese Zeit an jemanden, der „live“ dabei war, zu stellen. Nach einer kurzen Vorstellung begann Herr Schneider zu erzählen:

Obwohl seine Mutter bereits 1951 nach Westdeutschland gezogen war, kam er 1954 während eines Besuchs bei der Großmutter in Erfurt zur Welt. Aus diesem Grund verbrachte Herr Schneider seine Kindheit teilweise dort und teilweise in Stuttgart. Doch Ende 1958 durften er und sein älterer Bruder nicht mehr zurück zur Mutter in den Westen reisen und die Mutter nicht mehr zu ihren Söhnen in den Osten fahren. Zuerst glaubte die Familie -wie die meisten Menschen damals-, dass sich die Situation wieder normalisieren würde, doch als 1962 die Mauer errichtet wurde, wurde klar: „Die machen Ernst“. Weil bis zum Mauerbau bereits 2 Millionen Menschen den Osten verlassen hatten, brauchte die DDR jeden Bürger, und so wurden auch die Ausreiseanträge, die die Mutter stellte, immer abgelehnt. Wie Herr Schneider es ausdrückte: „Die Diktatur hat die Familie gewaltsam getrennt, um die Mutter in den Osten rüber zu drücken.“ Erst 1962 durfte sie wieder ihre Söhne besuchen – einmal im Jahr. Für Herrn Schneider gingen diese Besuche „an die psychische Substanz“, denn es war seiner Auffassung nach „jedes Jahr ein neuer Verlust“, wenn die Mutter wieder in den Interzonenzug stieg. Mit der Einschulung 1961 erhielt der heute 66-Jährige die Möglichkeit bei den Jungen Pionieren Mitglied zu werden und da er durch seine „Westklamotten“, die ihm die Mutter schickte, ohnehin schon auffiel, trat er dieser staatlichen Jugendorganisation – wie es ohnehin üblich war – bei. So verbrachte er seine Freizeit und hatte Spaß dabei, wie er zugab. „Zugab“, denn diese Mitgliedschaft bedeutete, schon von der 1. Klasse an eine vormilitärische Ausbildung zu erhalten. Damit wir uns davon ein besseres Bild machen konnten, spielte Herr Schneider einen Originalfilm ab, der Szenen aus einem Jungpionier-Ferienlager zeigte. Die Teilnahme an solchen Ferienlagern war sehr beliebt. Meist drei Wochen verbrachten die Kinder mit 200 bis 2000 anderen Jungpionieren in Zeltstätten, buken Knüppelkuchen am Lagerfeuer, lernten Gleichaltrige kennen und nahmen vor allem an Gelände- und Manöverspielen teil. Das eingespielte Video begann mit Aufnahmen von kleinen Mädchen und Jungen, die, wie Herr Schneider aus dem Off erklärte, eine Maschinenpistole auseinanderbauten und reinigten. Danach sahen wir, wie den Kindern und Jugendlichen die Fallschirmspringerausrüstung gezeigt wurde und wie sie sich sportlich betätigten. Anschließend marschierte ein Pionier-Bataillon gefolgt von „Kinderpanzern“ durchs Bild. Es war kaum zu glauben, doch diese Panzer, die extra für Kinder gefertigt worden waren, waren tatsächlich schussfähig! Aus einem kletterten zwei uniformierte Jungen und nun folgte eine besonders schockierende Szene, denn ein Junge hatte plötzlich eine Kalaschnikow in den Händen. Schließlich endete das Video mit einer Stimme, die verkündete, die Kinder würden ihr militärisches Können zeigen. Das bedeutet, dass sie nicht erst erlernen mussten, denn sie konnten es schon ihr ganzes Leben lang. Diese Dinge, die wir uns heute überhaupt nicht mehr vorstellen können, warfen einige Fragen auf, die Herr Schneider sogleich beantwortete. Ja, sagte er, er selbst lernte auch schießen, allerdings nur mit einer Kleinkaliberwaffe, und ja, er habe von Unfällen und Verletzungen bei diesen „Spielen“ gehört, doch in seinem Umfeld war nie etwas passiert, schließlich gab es auch eine strenge Schießstandordnung. Die Frage, ob er einmal einen dieser Kinderpanzer gefahren habe, verneinte der 66-Jährige. Solche gab es nämlich nur in den Camps für die privilegierteren Kinder, deren Eltern beispielsweise Polizisten waren oder bei der Staatssicherheit arbeiteten. Im Allgemeinen waren die Eltern von diesen Freizeitbeschäftigungen übrigens keineswegs entsetzt, denn die Gesellschaft war nach zwei Weltkriegen „durchmilitarisiert“ und beinahe jede Familie hatte zumindest ein Luftgewehr zu Hause. Während die Alliierten in den westlichen Besatzungszonen versuchten, der Bevölkerung die tiefsitzenden Denkmuster abzugewöhnen, wurde in der DDR dagegen darauf aufgebaut. So blieb die Meinung, dass ein Mann nur ein Mann sei, wenn er gedient habe, immer noch in den Köpfen etabliert.

Nun machte Herr Schneider einen kleinen Zeitsprung und erzählte, dass er nach seiner Schulzeit am liebsten einen Beruf ergriffen hätte, der ihm Spaß machte, doch aufgrund des planwirtschaftlichen Systems wurde ihm ein Ausbildungsplatz als Brauer und Mälzer zugewiesen – ein frustrierender Job. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits 17 Jahre alt und verlor die Hoffnung, seine Mutter auf dem Wege der Familienzusammenführung jemals wiederzusehen. Eines Tages sprach ihn ein Wehrdienstleistender an. Diesen Status erkannte er an dessen Schulterstücken, doch er machte ihn nicht weiter misstrauisch. Der Fremde erkundigte sich, ob Rainer Schneider ein Westdeutscher sei, was er aufgrund der Kleidung annahm. Dieser verneinte, meinte, dass er aber gerne dort sein wolle. Daraufhin begannen sie, über die Möglichkeiten einer Flucht zu tuscheln, und der Wehrdienstleistende behauptete, Waffen dafür organisieren zu können. Sie tauschten ihre Adressen aus und trafen sich in der Folgezeit öfter bei Herrn Schneider zu Hause, wo sie den Plan entwickelten, sich „den Weg freizuschießen“. Nach einiger Zeit wurde Herr Schneider jedoch misstrauisch, da trotz den Plänen nichts passierte und er auf dem Weg zur Arbeit plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Dieses Beobachtungsgefühl und die Verzweiflung, dass er womöglich nie mehr in den Westen kommen würde, lösten eine Panik aus, die ihn dazu brachte, selbst etwas zu unternehmen. Er wollte mit dem Zug nach Dresden und je nachdem, ob er sich mit seiner dort lebenden Freundin versöhnen würde oder nicht, weiter nach Prag fahren, um von dort aus zu Fuß nach Westen zu gehen. Im Nachhinein betrachtet, ein verrückter und naiver Plan. In der Verzweiflung von damals aber begab er sich im Februar 1972 zum Berliner Hauptbahnhof. Doch noch bevor er in den Zug einsteigen konnte, wurde er aufgehalten. Herr Schneider beschrieb das Folgende mit diesen Worten: „So schnell habe ich noch nie wie ein Schmetterling an der Wand geklebt.“ Er berichtete, wie er von sechs Stasimitarbeitern in Handschellen abgeführt wurde, die auf drei Autos verteilt, mit ihm zur Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit fuhren. Man beschuldigte ihn „der Planung, der Vorbereitung und des Versuchs eines bewaffneten Grenzdurchbruchs in Gruppe“. Das zweite Gruppenmitglied, der Wehrdienstleistende, war jedoch nicht verhaftet worden, denn es war ein verdeckt arbeitender Stasimitarbeiter. Die Beamten stellten es so dar, als wäre er – ein Siebzehnjähriger – kurz davor gewesen, den 3. Weltkrieg zu verursachen, falls er tatsächlich mit Waffengewalt „den antifaschistischen Schutzwall“ durchbrochen hätte. Rainer Schneider kam in Einzelhaft und seine Mutter wurde mitten in der Nacht in München durch einen Anruf informiert, dass ihr Sohn wegen versuchter Republikflucht festgenommen worden war. Mit diesem Anruf setzte sich ein ausgeklügelter Mechanismus in Gang, der dazu führte, dass Rainer Schneider nach zwei Jahren, von denen er 9 Monate im Gefängnis eingesessen hatte, 1974 schließlich ausreisen durfte. Die Bundesrepublik, die verpflichtet war, unschuldig Inhaftierten zu helfen, hatte ihn freigekauft. Die DDR verdiente auf diesem Weg – der Inhaftierung von Bürger, die Ausreisepläne hatten – Milliarden.

Nun war Herr Schneider also doch in den Westen gelangt. Auf die Frage, ob er etwas aus der DDR vermisse, antwortete er: „Gar nichts.“ Denn auch wenn an dieser Stelle oft der Zusammenhalt unter DDR-Bürgern genannt werde, so habe Herr Schneider in der Bundesrepublik einen „echteren“ erlebt, nämlich einen, der nicht aus einer Notsituation heraus geboren worden sei. Sich an das neue Leben zu gewöhnen, war dennoch nicht einfach, so musste er sich zum Beispiel erst an das große Warenangebot gewöhnen. Hierzu erzählte Herr Schneider eine Anekdote, wie ihn seine Mutter zum Käsekaufen schickte. Als er die eifrige Verkäuferin nach einem Käse fragte, erkundigte sich diese – für uns heute völlig verständlich – danach, welchen er denn wolle. Auch die Antwort „Hartkäse“, war ihr zu ungenau und als dem frischgebackenen BRD-Bürger schließlich die Sorte „Emmentaler“ einfiel, da kam wieder die Frage: „Welchen?“ Damit wurde es Herrn Schneider zu viel, und er fuhr zurück nach Hause, um seiner Mutter zu sagen, dass sie ihn nie wieder zum Einkaufen schicken solle.    Außer über Herrn Schneiders persönliche Lebensgeschichte, erfuhren wir noch einige allgemeinere Dinge über die DDR, wie beispielsweise, dass auf 16 Millionen Bürger über 280.000 hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit – mit anderen Worten „Spitzel“ – kamen. So wurde bereits Kindergartenkindern von den Erzieherinnen mit sehr subtilen Methoden entlockt, ob in der Familie das offiziell verpönte Westfernsehen geschaut wurde. Um das herauszufinden, sollten die Kinder die Uhr malen, die sie abends im Fernsehen sahen. Wer statt Ziffern nur Indizes zeichnete, bei dem lief zu Hause offensichtlich nicht die Aktuelle Kamera, die Nachrichtensendung der DDR, sondern die Tagesschau.

Am Ende appellierte Herr Schneider an uns, nicht alles zu glauben, was man uns erzählt. Wir sollten also die Informationen, die uns zur Verfügung gestellt werden, nicht konsumieren, ohne deren Richtigkeit zu prüfen, und Quellenstudium betreiben. Darüber hinaus riet er uns Schülerinnen und Schüler unsere Zeit zu nutzen, um uns so viel wie möglich über die Geschichte anzueignen, was auch die eigene Familiengeschichte einschließt, denn ein Verständnis dafür könne uns in unserem Denken wesentlich weiterbringen. „Versuchen Sie sich ein eigenes Bild zu machen!“, legte er uns nahe. Eine Sache, die gerade in Zeiten von Fakenews, die sich blitzschnell über das Internet verbreiten, wichtig ist.

Mit diesen Schlussworten gingen die zwei Stunden, in denen DDR-Zeitzeuge Rainer Schneider offen und mit Humor aus seiner Lebensgeschichte und von einer Zeit, die für uns Schülerinnen und Schüler kaum mehr greifbar ist, erzählte, zu Ende. Wir alle sind uns einig, dass wir viele interessante, überraschende und neue Dinge und sowohl historische Hintergründe erfahren als auch Denkanstöße die Gegenwart betreffend mitgenommen haben. Auch dass das Gespräch noch gerne länger hätte andauern können, befanden wir einvernehmlich.

Autorin: Pauline Kral, Klasse 10b